Sterbehilfe

 

An ausgewählte Abgeordnete der Parlamentarischen Versammlung des Europarates

Az.: 10.1-1 Dr/se - Berlin, 20.04.2005

Stellungnahme der Fachverbände der Behindertenhilfe in Deutschland zum Dokument Nr. 10455 vom 9.2.2005 der Parlamentarischen Versammlung des Europarates

„Assistance to patients at end of life“

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

die technischen Möglichkeiten der modernen Medizin, Krankheiten zu heilen und Leben zu erhalten, konnten in den vergangenen Jahren erheblich verbessert werden. Gleichzeitig bergen diese Möglichkeiten aber auch die Gefahr einer exzessiven und unangemessenen Anwendung technischer Therapien, selbst in Fällen, in denen dies nur zur Verlängerung eines leidensvollen Sterbeprozesses beiträgt. Dieser Umstand erzeugt vielfältige Ängste bei den Menschen: vor unerträglichen Schmerzen, im Sterben alleingelassen zu werden, der Medizintechnik ausgeliefert zu sein, der eigenen Würde „beraubt“ zu werden und Angst, gegen den eigenen Willen einen unnötig verlängerten Sterbeprozess erleiden zu müssen. Ebenso bestehen aber auch Ängste vor einer künstlichen Verkürzung des Lebens, einerseits verursacht durch Verknappung der Ressourcen im Gesundheits- und Pflegewesen, andererseits wegen der als bedrückend empfundenen subjektiven Vorstellung, anderen „zur Last“ zu fallen.

Das vom Ausschuss für Soziales, Gesundheit und Familie der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (Berichterstatter: Herr Dick Marty, Schweiz, Liberale Gruppe) vorgelegte Dokument Nr. 10455 vom 9.2.2005 erfüllt uns ebenso mit Sorge wie das vorangegangene Dokument 9898 vom 10.9.2003 mit dem Titel „Euthanasia“. Zwar ist zu begrüßen, dass in diesem neuen Dokument im Entwurf einer Resolution (I) unter Artikel 4 u.a. die Förderung der Palliativmedizin, der häuslichen Pflege, medizinethischer Codices und Richtlinien zur Suizidprävention gefordert wird. Doch in der Begründung durch Herrn Marty (II) unter § 7 Punkt 41ff wird die Entkriminalisierung der Euthanasie vorgeschlagen unter Berufung auf das Recht auf Selbstbestimmung, Freiheit und Gleichheit sowie auf die Legalität der Abtreibung.

Wir appellieren an die Parlamentarische Versammlung des Europarates, das Dokument zurückzuweisen. Stattdessen sollte sie die Mitgliedstaaten erneut auffordern, die Empfehlung 1418 vom 25.6.1999 der Parlamentarischen Versammlung in den Mitgliedsstaaten, wo dies noch nicht geschehen ist, in geltendes Recht umzusetzen. Darin werden die Mitgliedsstaaten angehalten, „die Würde von Todkranken und Sterbenden in jeder Hinsicht zu achten und zu schützen (...) durch die Bekräftigung des Verbotes der vorsätzlichen Tötung von Todkranken und Sterbenden (...) bei Anerkennung, dass der Todeswunsch eines Todkranken oder Sterbenden zu sterben, niemals gesetzliche Rechtfertigung darstellt für Handlungen, deren Ziel die Herbeiführung des Todes ist.“ Ausdrücklich wird darin betont, dass das Recht auf Leben im Einklang mit Artikel 2 der Europäischen Konvention der Menschenrechte garantiert wird, der besagt: „Das Recht jedes Menschen auf das Leben wird gesetzlich geschützt. Niemand darf absichtlich getötet werden (...)“. Das Grundgesetz (Art. 1, 2 und 3) der Bundesrepublik Deutschland sowie das strafgesetzliche Tötungsverbot bieten ausreichenden Schutz davor, dass Schwerstkranke und Sterbende vorzeitig aus der menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen werden. Damit ist für Deutschland die Empfehlung 1418 erfüllt. Für die Ablehnung des Dokuments 10455 nennen wir folgende Gründe:

  1. In seiner Entscheidung Nr. 2346/02 vom 29.4.2002 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ausdrücklich festgestellt, dass sich aus dem Recht auf Leben Art.2 Abs.1 EMRK keineswegs auch ein Recht auf selbstbestimmten Tod ableiten lasse.
  2. Ein Recht auf aktive Sterbehilfe oder ärztlich assistierten Suizid lässt sich weder aus der Patientenautonomie, noch aus dem Recht auf Selbstbestimmung, noch aus der Freiheit des Gewissens ableiten. Das Prinzip der Autonomie ist ethisch begründet und begrenzt. Es darf nicht verabsolutiert werden, sondern schließt Verantwortung für sich und andere ein. Neben dem Prinzip der Patientenautonomie steht gleichrangig das Prinzip der Fürsorgepflicht des Arztes. Die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe und des ärztlich assistierten Suizids würde einen Tabubruch bedeuten und die Hemmschwelle gegen „Mitleidstötungen“ senken. Die Praxis der aktiven Sterbehilfe (Euthanasie) in den Niederlanden hat gezeigt, dass eine wirksame Kontrolle durch den Staat nicht möglich ist und Missbrauch zulässt. Menschen mit Behinderungen, pflegebedürftige ältere Menschen, abhängige und nicht (mehr) einwilligungsfähige Patienten sind in besonderer Weise gefährdet, einer unfreiwilligen Euthanasie zum Opfer zu fallen. Als Interessenverbände und Partner für Menschen mit Behinderung können wir eine solche Entwicklung nicht hinnehmen. Wir dürfen niemals zulassen, dass eine Entscheidung getroffen wird, ob ein bestimmtes Leben als lebenswert gelten soll oder nicht.
  3. Aktive Sterbehilfe widerspricht dem ärztlichen Ethos und verstößt gegen die Würde und das Lebensrecht des Menschen. Nur durch die klare Ablehnung können Missbrauch vermieden und das Vertrauen der Sterbenden gewonnen werden. Die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe und des ärztlich assistierten Suizids kann für den Sterbenden selbst, Ärzte, Pflegende und Angehörige unlösbare Gewissenskonflikte mit sich bringen. Wir halten es für unzumutbar, Angehörigen oder gesetzlichen Betreuern von nichteinwilligungsfähigen Patienten die Bürde aufzuerlegen, über Leben oder Tod eines anderen Menschen zu entscheiden.
  4. Es entspricht der Würde des Menschen, dass er im Sterben nicht allein gelassen sondern medizinisch, pflegerisch und seelsorgerlich angemessen begleitet wird. Palliativmedizin und -pflege sowie Hospizdienste sind in der Lage, durch ganzheitliche, fürsorgliche, mitmenschliche und interdisziplinäre Betreuung und Sterbebeistand unerträgliche seelische und körperliche Schmerzen zu beseitigen oder zumindest auf ein für den Patienten erträgliches Maß zu reduzieren. Palliativmedizin und Palliativpflege müssen daher flächendeckend angeboten und verbessert werden.
  5. Hinter dem Wunsch eines Patienten nach aktiver Sterbehilfe oder ärztlich assistiertem Suizid verbirgt sich in den meisten Fällen die verzweifelte Suche nach einem Ausweg aus einer für ihn unerträglichen Situation, in der z.B. Schmerzen unzureichend behandelt werden oder er das Gefühl hat, seiner Umwelt eine „Last“ zu sein. Todeswünsche können auch durch temporäre seelische Depressionen verursacht werden. Die Gabe von schmerzlindernden Medikamenten ist ethisch geboten und erlaubt, selbst wenn in Einzelfällen eine lebensverkürzende Wirkung in Kauf genommen werden muss. Die legalen und unumstrittenen Möglichkeiten der Therapiebegrenzung bzw. der Therapiezieländerung sowie der Sterbebegleitung können ein Sterben in Würde gewährleisten.
  6. In der Schlussfolgerung des Dokuments - § 8 Punkt 51 – wird unterstellt, dass seit der Entkriminalisierung der Euthanasie in den Niederlanden und in Belgien aufgrund der verschärften Kontrollen keine Zunahme der Euthanasie stattgefunden habe. Es wird weiterhin unterstellt, dass sie heimlich in den meisten Mitgliedsstaaten des Europarates durchgeführt würde. Neueste Untersuchungen haben jedoch gezeigt, dass das Ziel der niederländischen Gesetzgebung, nämlich die effektive Kontrolle, nicht erreicht wurde. Im Gegenteil:

    • Die „freiwillige“ aktive ´Sterbehilfe sowie ärztlich assistierter Suizid wurden ausgeweitet auf Fälle von Demenzerkrankungen.
    • Die „terminale Sedierung“ wird ersatzweise für die aktive Sterbehilfe angewendet, ohne dass dies den Behörden gemeldet wird.
    • Aktive Sterbehilfe wurde an schwerstmehrfach behinderten Neugeborenen praktiziert.
    • Die niederländische Ärzteorganisation (KNMG) schlägt vor, aktive Sterbehilfe auch auf „soziales Leiden“ – Menschen, die „am Leben leiden“ – auszuweiten.

Die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe bedeutet eine Gefährdung besonders schutzwürdiger Menschen und widerspricht den religiösen und ethischen Wertvorstellungen, die Europa mit geprägt haben. Mitmenschlichkeit verlangt Solidarität mit den Schwachen, nicht aber deren Tötung!

Mit freundlichen Grüßen

Pfarrer Klaus-Dieter Kottnik
Bundesverband evangelische Behindertenhilfe e.V.

Robert Antretter
Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e.V.

Dr. Elisabeth Kludas
Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie e.V.

Hans-Werner Lossen
Verband für anthroposophische Heilpädagogik, Sozialtherapie und soziale Arbeit e.V.

Aribert Reimann
Bundesverband für Körper- und Mehrfachbehinderte e.V.

© 2016 Lebenshilfe Waldeck e.V.

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